16. Juni 2020 · Praxisberichte · Netzwerk Introvision
Praxisbeispiel
introvision in der praxis – ein fiktives anwendungsbeispiel
Im Folgenden wird ein Fall geschildert, den es so nicht gegeben hat, der aber aus verschiedenen Anteilen zahlreicher realer Fälle der Introvisionspraxis extrahiert wurde.*
Frau Meier ist aus gesundheitlichen Gründen seit mehreren Monaten nicht mehr in der Lage zu arbeiten. Sie macht sich große Sorgen um ihre berufliche Existenz und hofft, in einem anderen Arbeitsbereich oder in einer anderen Firma, wieder einsteigen zu können. Ihre körperlichen Leiden nehmen stark zu, wenn sie sich mit beruflichen Themen beschäftigt. Sie möchte aber auf jeden Fall wieder arbeiten, auch weil sie das Gefühl hat, sonst zu vereinsamen.
Sie liest einen Artikel über Introvision und fühlt sich stark angesprochen, daher nimmt Frau Meier Kontakt zu den AnbieterInnen auf und entschließt sich an einem Kurs zur Einführung in die Introvision teilzunehmen. In dem Kurs lernt sie andere Menschen kennen, die sich in ähnlichen Lebenssituationen befinden. Das Gefühl, nicht die einzige zu sein, die Probleme und Konflikte hat, wirkt erleichternd auf Frau Meier. Sie lernt im Kurs verschiedene Wahrnehmungsübungen (Konstatierendes Aufmerksames Wahrnehmen) und weitere Methoden um aus inneren Gedankenkreisen auszusteigen. Sie erfährt, wie andere TeilnehmerInnen mit schwierigen Themen und Situationen umgehen, kann selbst eigene Erfahrungen beisteuern und erlebt, wie die Veränderung der Wahrnehmung sie in verschiedenen Situationen handlungsfähiger werden lässt. Sie fühlt sich insgesamt ruhiger und gelassener. Sie lernt, sich selbst immer besser kennen, erweitert ihre Selbstwahrnehmung und erkennt ihre inneren Konflikte. Frau Meier fällt es auch leichter ihre eigenen Konflikte von denen anderer zu unterscheiden.
Am Ende des Kurses stellt sie fest, dass es noch einige wichtige Themen gibt, die sie bisher noch nicht lösen konnte und nimmt ein Einzelcoaching bei einer Introvisionsberaterin in Anspruch. Im Einzelcoaching spricht sie über ihre Ängste die im Zusammenhang mit ihren Erfahrungen im Beruf stehen aber auch über andere Sorgen, die sie schon länger mit sich herum trägt. Gemeinsam mit der Beraterin erarbeitet sie den Kern ihres Konflikts. Die Imperativkette von Frau Meier sieht folgendermaßen aus: Es darf nicht sein ,dass ich Schwierigkeiten bei der Arbeit habe. → Es darf nicht sein, dass ich dann wieder nichts dagegen machen kann und Schmerzen bekomme. → Es darf nicht sein, dass ich wieder krank werde. → Es darf nicht sein, dass ich nicht mehr arbeiten kann. → Es darf nicht sein, dass ich dann nutzlos bin. → Es darf nicht sein, dass ich wertlos bin. (Dann mag mich keiner und ich werde nicht geliebt. Es fühlt sich ganz schrecklich an.) In dem Moment, wo der Gedanke (die größte Angst) ausgesprochen wird, fühlt es sich für Frau Meier sehr unangenehm an. Sie beschreibt, dass sie sich ganz klein fühlt, unbeachtet von den Menschen um sie herum, dass ihr Herz schneller schlägt, ihre Atmung sehr schnell geht, sich im Brustraum alles zusammenzieht und sich ein Kloß im Hals bildet. Dies alles sind Symptome der Angst und diese werden aktiviert, sobald Frau Meier im Alltag mit einem Thema in Kontakt kommt, welches im Hintergrund ihre innerste Angst antriggert. Sie wusste bisher nicht, warum sie so außer sich gerät und wütend oder traurig wird, wenn sich jemand in der Schlange vor drängelt oder die Chefin an einem Tag kein Lob austeilt.
In Begleitung der Beraterin lernt sie, den Gedanken: „Es kann sein, dass ich wertlos bin.“ (als Subkognition: unterliegende Kognition ihres Kern-Imperativs: „Es darf nicht sein, dass ich wertlos bin!“) zu konstatieren. D. h. Sie nimmt diesen Gedanken konstatierend aufmerksam wahr, ohne sich hineinzusteigern und ohne ihn sofort auszublenden oder zu verdrängen. In dem Moment wo es Frau Meier gelingt, diesen unangenehmen Gedanken wertfrei wahrzunehmen, kann das Gedankenkreisen um diese Befürchtung aufhören. Dadurch kann auch die Befürchtung wertlos zu sein, Schritt für Schritt ihren Schrecken verlieren. Frau Meier erinnert sich daran, dass sie schon als Kind häufig Angst hatte, nichts wert zu sein, wenn sie nicht genug leistet. („Nur wer etwas leistet bekommt Essen und Zuwendung.“) Sie fühlt sich erleichtert, weil sie nun weiß, woher ihre Belastung kommt und erkennt den Zusammenhang zu weiteren schwierigen Themen, die z. T. auch ihr Privatleben betreffen. Sie weiß jetzt, dass der Gedanke „wertlos zu sein“, sehr unangenehm für sie ist, aber auch, dass sie „daran nicht stirbt“.
Die Zusammenarbeit mit Personen und Institutionen fällt Frau Meier leichter, weil sie sich nicht mehr so schnell in Frage gestellt oder persönlich angegriffen fühlt. Sie kann sich mit dem Thema Beruf auseinandersetzten ohne körperliche Beschwerden zu bekommen und es ist ihr gelungen, mit ihrem Mann darüber zu sprechen, was wäre, wenn sie nicht bald wieder voll in das Berufsleben einsteigen würde. Ihre Befürchtung, dass er enttäuscht sein könnte, hat sich in Luft aufgelöst. Ihm ist es wichtig, dass seine Frau wieder ganz gesund wird und es ihr gut geht. Das nimmt ihr sehr viel Druck und erleichtert die Überlegung, was sie eigentlich gerne will und wie viel sie in Zukunft arbeiteten und leben kann/möchte.
Den Menschen, die mit Frau Meier zu tun haben, fällt auf, dass sie konzentrierter und präsenter wirkt als früher.
Frau Meier selbst fällt auf, dass ihre Gelassen sich auch auf ihr Umfeld auswirkt. Kontaktpersonen wirken ebenfalls gelassener und sie hat das Gefühl, besser verstanden und als Person mehr gesehen zu werden.
* Die verwendeten Erfahrungen stammen aus vieljähriger Introvisionspraxis seit 2002 sowie der Mitarbeit in diversen Forschungsprojekten zur Erforschung der Wirksamkeit der Introvision.
(Text: Sonja Löser und Petra Spille)